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erstellt am:
24.11.2016
Vorbemerkung der Abgeordneten
„VW ist sich keiner Schuld bewusst“ titelte die Neue Presse am 4. November 2016 und führt fort, dass der VW-Konzern in der „Abgasaffäre keinen Verstoß gegen EU-Gesetze“ sieht. Die eingebaute Software stelle nach Ansicht des VW-Konzerns „keine unzulässige Abschalteinrichtung nach europäischem Recht dar“, soll der VW-Konzern Medien mitgeteilt haben. Darüber hinaus bestreitet der VW-Konzern nach Einschätzung von Beobachtern offenbar die gesundheitlichen Einwirkungen von Stickoxiden. Der VW-Konzern wird im Beitrag wörtlich zitiert mit: „Eine seriöse Ermittlung von Krankheitszahlen oder sogar Todesfällen für bestimmte Bevölkerungsgruppen ist nach unserem Kenntnisstand aus wissenschaftlicher Sicht nicht möglich“ (NP, 4. November 2016).
Im Artikel „So schädlich ist Stickoxid für die Gesundheit“ (http://www.rp-online.de/leben/auto
/news/so-schaedlich-ist-stickoxid-fuer-die-gesundheit-aid-1.5417061) wird von deutlichen „gesundheitlichen Konsequenzen“ und von „Atemwegserkrankung“ bei einer erhöhten NO2-Konzentration in der Atemluft gesprochen. Weiter heißt es: „Besonders anfällig für diese Auswirkungen von NO2 sind Kinder. In Österreich beispielsweise führt die Schadstoffbelastung durch den Kfz-Verkehr laut Weltgesundheitsorganisation pro Jahr zu 21 000 zusätzlichen Fällen von Bronchitis und zu 15 000 zusätzlichen Asthmaanfällen bei Kindern. Zudem warnt die WHO in diesem Zusammenhang schon lange davor, dass in abgasbelasteten Gebieten die Sterblichkeitsrate steigt - übrigens auch aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine vergleichbare Studie gibt es für Deutschland bislang noch nicht“.
Die Landesregierung geht weder in der Antwort auf die Kleine Anfrage zur mündlichen Beantwortung „Gesundheitsschutz vor Stickoxiden und Feinstaub: Wie weiter mit der Luftreinhaltung in Niedersachsens Städten“ (Drucksache 17/5350) noch bei den Ausführungen von Minister Wenzel im Plenarprotokoll der 35. Plenarsitzung (Seite 3275 bis 3276) auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Stickoxiden ein.
Vorbemerkung der Landesregierung
Luftschadstoffe haben neben ihrer gesundheitsschädigenden Wirkung auch einen beträchtlichen nachteiligen Einfluss auf die Umwelt.
In den Staaten der Europäischen Union existiert daher ein einheitliches Recht zur Beurteilung und Kontrolle der Luftqualität. Es gelten die EU-Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa sowie die Richtlinie 2004/107/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 15.12.2004. Die dort vorgegebenen Grenzwerte sind aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse mit dem Ziel festgelegt, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt insgesamt zu vermeiden, zu verhüten oder zu verringern. Sie sind innerhalb bestimmter Zeiträume einzuhalten und dürfen danach nicht mehr überschritten werden. Die EU setzt für Stickstoffdioxid einen Jahresmittelwert als Grenzwert in Höhe von 40 μg/m3 und einen Stundenmittelwert als Grenzwert in Höhe von 200 μg/m3, der 18mal im Kalenderjahr überschritten werden darf, fest. Mit dem 8. Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes sowie der 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen - 39. BImSchV) erfolgte die 1:1-Umsetzung der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa. Ziel ist es, schädliche Auswirkungen von Luftschadstoffen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu vermeiden oder zu verringern.
1. Welche Kenntnisse, wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Studien hat die Landesregierung über die gesundheitlichen Auswirkungen oder Gefahren von Stickoxiden?
Stickoxide oder Stickstoffoxide ist eine Sammelbezeichnung für die gasförmigen Oxide des Stickstoffs. Bei Verbrennungsvorgängen entstehen sowohl Stickstoffmonoxid (NO) als auch Stickstoffdioxid (NO2).
Stickstoffdioxid zeigt eine stärkere schädliche Wirkung als Stickstoffmonoxid. NO2 ist ein Reizgas, es schädigt das Schleimhautgewebe im gesamten Atemtrakt und reizt die Augen. NO2 führt außerdem als starkes Oxidationsmittel zu Entzündungsreaktionen in den Atemwegen und verstärkt die Reizwirkung anderer Luftschadstoffe zusätzlich. In der Folge können Atemnot, Husten, Bronchitis, Lungenödem, steigende Anfälligkeit für Atemwegsinfekte sowie Lungenfunktionsminderung auftreten. In der Umwelt vorkommende Stickstoffdioxid-Konzentrationen sind vor allem für Asthmatiker ein Problem, da sich eine Bronchialkonstriktion (Bronchienverengung) einstellen kann. Kinder sind hier besonders betroffen, da die Atemwege noch nicht vollständig ausgewachsen sind. Diese Effekte können zusätzlich die Wirkungen von Allergenen verstärken. Auch eine Zunahme der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Sterblichkeit kann beobachtet werden. Die mittelbare Wirkung des NO2 auf die menschliche Gesundheit besteht in seiner Eigenschaft als Vorläufersubstanz für Feinstaub. Eine chronisch erhöhte Feinstaubbelastung führt zu mehr Herz-/Kreislauf- und Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung und verkürzt die Lebenserwartung weiter.
Eine weitere - gesundheitlich wie pflanzenphysiologisch bedeutsame - mittelbare Wirkung des NO2 rührt daher, dass das NO2 auch eine Vorläufersubstanz für Ozon darstellt. Ozon ist ein sehr starker Reizstoff für die Schleimhäute, die Atemwege und Augen; es schädigt auch Pflanzen und Ökosysteme.
Stickstoffmonoxid reagiert im Vergleich zu NO2 in geringerem Maße am Lungengewebe. Daher kann es stärker aufgenommen und mit dem Blut weit im Körper verteilt werden. Seine systemische Wirkung ist die Beeinflussung der Blutgefäßspannung, z. B. Gefäßerweiterung (sog. Vasodilatationseffekt). NO ist auch ein körpereigen gebildeter Botenstoff, so dass von außen zugeführte NO-Mengen in diese Regelungsmechanismen eingreifen und stören können.
Die Erkenntnisse zu den gesundheitsschädlichen Wirkungen wurden aus einer Vielzahl von Studien gewonnen. Als Übersichtsarbeiten sind vor allem der Statusbericht der Kommission Reinhaltung der Luft im VDI (Kraft et al. 2005), die „Air Quality Guidelines“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2006) sowie der Bericht „Integrated Science Assessment for Oxides of Nitrogen – Health Criteria“ der US-amerikanischen Umweltbehörde (EPA 2008) zu nennen.
2. Wie fällt die fachliche Beurteilung der Landesregierung zur Aussage des VW-Konzerns „Eine seriöse Ermittlung von Krankheitszahlen oder sogar Todesfällen für bestimmte Bevölkerungsgruppen ist nach unserem Kenntnisstand aus wissenschaftlicher Sicht nicht möglich“ aus?
Die Ursachen von Luftverunreinigungen sind mittlerweile gut bekannt. 45 % der Stickstoffemissionen kommen aus dem Verkehr, der Anteil der Kohlekraftwerke beträgt 23%, 10% kommen aus den übrigen Feuerungsanlagen, 8% aus Industrieprozessen sowie 7% aus der Landwirtschaft. Die Höhe der NO2-Belastung ist vor allem durch lokale Quellen - insbesondere den Verkehr in Ballungsräumen - bestimmt. Von einer derzeitigen Unterschätzung des Anteils verkehrsnaher Stationen mit Grenzwertüberschreitung und einer späteren Korrektur nach oben auf einen Wert im Bereich von 60 - 65 % muss laut Umweltbundesamt auch in diesem Jahr wieder ausgegangen werden. Dies spiegelt wider, dass an einer Vielzahl von Stationen Jahresmittel oberhalb 40 μg/m3 gemessen und somit Grenzwertüberschreitungen verzeichnet wurden.
Da die Wirkungen aber nicht unmittelbar und zeitnah direkt am Menschen messbar sind, gibt es prinzipielle methodische Einschränkungen bei der Abschätzung gesundheitlicher Risiken durch Luftverunreinigungen. Die gesundheitlichen Effekte können nur durch bevölkerungsbasierte epidemiologische Studien quantifiziert werden.
3. Wie beurteilt die Landesregierung die Aussage des VW-Konzerns, dass die Manipulation der Software „keine unzulässige Abschalteinrichtung nach europäischem Recht“ darstellte und somit auch kein Verstoß gegen EU-Gesetze vorliege (NP, 4. November 2016)?
Die Definition einer Abschalteinrichtung ergibt sich aus den „Begriffsbestimmungen“ des Artikels 3, Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007:
„Abschalteinrichtung“ ist ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
Artikel 5 (2) der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 lautet „Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkungen von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn
a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung
oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;
b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist;
c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.“
Das bedeutet, unter diesen Voraussetzungen können Abschalteinrichtungen ausnahmsweise verwendet werden.
Ob die Ausnahmen in Artikel 5 (2) a) bis c) der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, unter denen Abschalteinrichtungen eingesetzt werden dürfen, gerechtfertigt sind und ob die von VW in den betreffenden Motoren verwendete Software eine verbotene Abschalteinrichtung im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist, sind technische Fragestellungen, die im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens durch das Kraftfahrtbundesamt als zuständige Typgenehmigungsbehörde zu klären sind. Das niedersächsische Wirtschaftsministerium und seine nachgeordneten Behörden sind fachlich nicht mit derartigen Fragestellungen befasst und besitzen hierzu auch keine Fachkompetenz.
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erstellt am:
24.11.2016